Die Entwicklung des Charakters eines Menschen ist zentrales Anliegen von Mentoring

Mentoring – Was ist das?

Das Thema „Mentoring“ beschäftigt mich schon seit den 1990er Jahren, als ein älterer Kollege mir ein Buch mit genau diesem Titel in die Hand drückte1. Was ich dort las, packte mich, denn mir wurde die Bedeutung von Mentoring das erste Mal so richtig bewusst. Außerdem wurde mir klar, dass ich schon einige Mentoren in meinem Leben hatte und im Grunde längst selbst ein Mentor für andere war.2 Der Begriff Mentoring wurzelt eigentlich in der griechischen Mythologie. Als Odysseus sich auf den Weg in den Krieg nach Troja machte, vertraute er seinen Sohn Telemachos zu Hause seinem Freund Mentor mit den Worten an: „Erzähle ihm alles, was Du weißt!“ So jedenfalls lesen wir es in Homers Illias.

„Erzähle ihm alles, was Du weißt!“

Mentor sollte für Telemachos der Begleiter, Führer, Berater und Erzieher sein. Vergleichbares hat es natürlich zu allen Zeiten gegeben, wie zum Beispiel der „Seelenfreund“ im keltischen Christentum.3 Erst im 17. Jahrhundert setzte sich Mentoring in der Pädagogik und Literatur durch und heute gibt es Mentoring-Programme an Hochschulen und in der Wirtschaft. Mentoring kann auf verschiedene Weise definiert werden, doch im Grundsatz geht um eine persönliche, von Vertrauen geprägte Beziehung einer erfahrenen, meist älteren Person zu einer jüngeren, die in der Entwicklung ihres Lebens ganzheitlich unterstützt wird. Solche Beziehungen begegnen uns auch in der Bibel, im Alten Testament beispielsweise Mose und Josua, Elia und Elisa oder Naomi und Ruth. In jedem Fall begleitet und prägt eine ältere Person eine jüngere teilweise über Jahre in einer persönlichen Beziehung.

Jesus als Mentor

Natürlich spricht Jesus nicht von sich als Mentor und seinen Nachfolgern als Mentees, doch was wir in den Evangelien über ihn als Meister und Lehrer seiner Jünger finden, ist nach meiner Überzeugung das Herz von Mentoring: ein Jünger werden und andere zu Jüngern machen. Dabei wird der Charakter der Menschen um Jesus geprägt und ihr Verhalten verändert sich in den Beziehungen und der Gemeinschaft mit ihrem Herrn und miteinander.  „Für die Zwölf bestand der wertvollste Aspekt ihrer Verbindung mit Christus einfach in dem Vorrecht, mit Ihm zu sein – Tag für Tag jenes wunderbare Leben zu sehen und täglich still, fast unbemerkt, von Seinem Charakter geprägt werden zu können.“4 Die Entwicklung des Charakters oder der Persönlichkeit eines Menschen ist zentrales Anliegen von Mentoring und kann gar nicht überschätzt werden: „Das Formen der menschlichen Seele ist die wichtigste Aufgabe im Universum (…)“ formulierte John Ortberg (…).

„Es geht also um nichts anderes als Christusähnlichkeit.

Er beschreibt die Vision eines Leiters, der Persönlichkeitsbildung vor alle anderen Aufgaben stellt und sich nichts sehnlichster wünscht als gesunde, reife, geistlich verwurzelte Menschen hervorzubringen.“5 Jesus selbst beschreibt das Ziel für seine Jünger so: „Ein Jünger steht nicht über dem Meister; wer aber alles gelernt hat, der ist wie sein Meister.“ (Luk 6,40 LÜ) Es geht also um nichts anderes als Christusähnlichkeit.

Fünf Stufen des Mentoring

Neben diesem zentralen Anliegen der Charakterbildung der Jünger von Jesus steht auch die Entwicklung von Gaben und Fähigkeiten. Als Jesus sie ruft, nennt er beide Aspekte: „Kommt, folgt mir nach! Ich will euch zu Menschenfischern machen.“ (Mk 1,17 NGÜ) Die folgenden fünf Stufen innerhalb eines Mentoringprozesses6 lassen sich auch im Leben und Handeln von Jesus und seinen Jüngern nachvollziehen:

  1. Ich tue es, du schaust zu.
    Jesus verkündigt seine Botschaft vom anbrechenden Reich Gottes, lehrt seine Zuhörer und tut viele Wunder – und das alles vor den Augen und Ohren seiner Jünger.
  2. Ich tue es, du hilfst mir dabei.
    Jesus bezieht seine Jünger in sein Handeln mit ein: Bei der Speisung der 5.000 (Lk 9,10-17) haben sie die Nahrungsmittel, organisieren die Sitzordnung der Volksmenge und verteilen das Essen, während er das eigentliche Wunder tut.
  3. Du tust es, ich helfe dir dabei.
    Jesus lässt seine Jünger eigenständig etwas tun und greift unterstützend ein, als sie an ihre Grenzen kommen (Lk 9,37-42)
  4. Du tust es, ich schaue dir dabei zu.
    Jesus lässt seine Jünger für eine gewisse Zeit ausschwärmen, bevollmächtigt sie und gibt ihnen einen Heilungs- und Verkündigungsauftrag (Lk 9,1-6). Als sie zurückkommen, berichten sie ihm davon.
  5. Du tust es, ein anderer Mentee schaut dir dabei zu.
    Nach der Himmelfahrt Jesu steht der Auftrag an die Jünger im Fokus, Menschen aus allen Nationen zu Jüngern zu machen. Sie sollen andere zu Jüngern machen, so wie Jesus es mit ihnen gemacht hat. Der Prozess wiederholt sich und so kommt es zur Multiplikation.

Was lernen wir?

Was können wir von Jesus und seinem Team, seinen Jüngern, konkret lernen für unsere Mentoring-Praxis in einem missionarischen Team oder einer Gemeinde?

  • Jesus teilte sein Leben mit seinen Jüngern – zumindest für eine gewisse Zeit. Sie waren nicht nur ein „Einsatzteam“, sondern eine Lebensgemeinschaft. Wo und wie könnten wir heute junge Leute mit hineinnehmen in unseren Alltag, ja in unsere Familien, damit sie hautnah und ganz praktisch erleben, wie wir als Jesusnachfolger leben?
  • Jesus lebte seinen Auftrag gemeinsam mit seinen Jüngern, wobei er sie zunehmend mit hineinnahm, befähigte und freisetzte. Wir brauchen Bereiche und Zeiten, in denen wir gemeinsam mit den Menschen, die wir fördern, im Reich Gottes dienen und (missionarisch) arbeiten. Straßeneinsätze, Vorbereiten und Durchführen von Bibelentdeckerkreisen oder Gottesdiensten, Besuche bei geistlich offenen Menschen (die Liste lässt sich fortsetzen…) – bei mir persönlich besteht die Versuchung, all das lieber alleine zu tun, denn meist geht es dann schneller… Von Jesus lerne ich etwas anderes: Er bezieht seine Jünger bei allem, was er tut, in zunehmendem Maße ein.
  • Jesus lässt seine Jünger eigenständig Aufträge bzw. Aufgaben erledigen und im Anschluss gibt es Gelegenheit für Berichte, Feedback und Auswertung mit ihrem Meister. Eine optimale Voraussetzung für nachhaltigen Lernerfolg! Wie oft sehe ich hingegen vor allem die Aufgaben, die ich delegieren kann, damit sie erledigt werden. Eine Lern- und Feedback-Kultur, die Menschen ermutigt, aber auch Fehler und Scheitern zulässt und vor allem die persönliche Entwicklung des Einzelnen im Blick hat, ist in Gemeinde und Mission leider viel zu selten.

„Bei Jesus kann man sicherlich am meisten lernen, was es heißt, Mentor zu sein.“7 Wie wäre es, wenn wir die Evangelien einmal unter diesem Aspekt lesen – als praktisches Handbuch für Mentoring?

„Jesus war für seine Jünger der ideale Mentor. Er lebte mit ihnen zusammen, sie zogen drei Jahre durch Israel und die Jünger lernten Schritt für Schritt, was Jesus ihnen über das Reich Gottes mitteilte. Sie schauten ihm über die Schulter bei seinen Reden und seinen Wundern, sie durften mithelfen und kleinere Aufgaben selbst übernehmen, dann gab es Kurzpraktika, in denen sie das Gelernte in eigener Verantwortung in die Praxis msetzen konnten. Jesus ging auf ihre Fragen ein, hatte Geduld bei ihrem Unverständnis, lehrte sie und schlichtete ihren Streit. Er nahm sich Einzelne beiseite, hatte Zeit für sie und half ihnen, den richtigen Weg zu finden.“8

Tobias Faix

Wolfgang Klöckner

…lebt und arbeitet seit vielen Jahren mit seiner Frau Ute im Allgäu, wo sie die Gründung und den Aufbau einiger Gemeinden gestartet und unterstützt haben. Sie begleiten und fördern verschiedene missionarische Projekte in der Region. Wolfgang engagiert sich darüber hinaus im Vorstand der Deutschen Inlandmission (DIM).

Fußnoten

  1. Es handelt sich um das Buch „Mentoring, Jünger werden & Jünger machen“ von Paul D. Stanley und J. Robert Clinton, das 2020 im Movement-Verlag neu aufgelegt wurde.
  2. Über diese Zusammenhänge werde ich in einem zweiten Teil dieses Artikels in der nächsten Brennpunkt-Ausgabe etwas schreiben.
  3. „Man verbrachte Zeit mit seinem anam cara, d.h. dem „Seelenfreund“ (…), dem gegenüber man sich freiwillig öffnete und Rechenschaft gab. (…) Es war jemand, der sowohl unterstützte als auch herausforderte.“ George G. Hunter, Keltisch evangelisieren – Von irischen Mönchen lernen, Hamburg: Movement-Verlag 2022, 46.
  4. Tobias Faix / Anke Wiedekind, Mentoring – das Praxisbuch. Ganzheitliche Begleitung von Glauben und Leben, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 8. Aufl. 2020, S. 81. Hier finden sich viele weitere Anregungen und Studienfragen, die zu verstehen helfen, was wir von Jesu Umgang mit seinen Jüngern für  Mentoringbeziehungen heute lernen können.
  5. Ebd., S. 150-151.
  6. Im Englischen gibt es hierzu das Akronym MAWL: Model (vormachen), assist (helfen), watch (zuschauen), leave (verlassen) mit etwas anderer Betonung ohne den Aspekt der Multiplikation.
  7. Faix / Wiedekind, S. 79.
  8. ebd.

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