Gastbeitrag von Warrick Farah und Alan Hirsch

Es besteht kein Zweifel, dass Gott uns in den letzten Jahren einige entscheidende Lektionen erteilt hat. Die COVID-19-Pandemie war wahrscheinlich das einschneidendste Ereignis für die Kirche seit dem Zweiten Weltkrieg und hat christliche Leiter auf der ganzen Welt dazu gezwungen ihre Denkweise und Praxis neu zu bewerten.

Der Gottesdienst am Sonntag wird vielfach als die wesentliche Ausdrucksform von Kirche wahrgenommen, doch das wird zunehmend in Frage gestellt. Da nun vielerorts mit dem (Präsenz-)Gottesdienst die „Dame“ aus dem Spiel genommen wurde (um das Bild des Schachspiels zu gebrauchen), waren Leiter gezwungen sich damit zu beschäftigen, was die anderen Schachfiguren auf dem Brett leisten können. Das hat uns wiederum zum Nachdenken über den Charakter der Kirche gebracht – ein lebendiges, dezentrales Netzwerk von Menschen aus Fleisch und Blut. Und genau dies ist das eigentliche Wesen und Kennzeichen aller Bewegungen, die die Welt verändern.

Führt Gott uns zu neuen Ausdrucksformen von Gemeinde?

Darüber hinaus haben viele Länder mit der Pandemie eine Krise erlebt, die unmittelbar auf andere Krisen folgte. Der rasch fortschreitende Niedergang des Christentums in den USA und das Katastrophenjahr 2019 im Libanon sind nur zwei Beispiele, die zeigen, dass das Tempo der Veränderungen in der heutigen Welt rapide zunimmt. Für viele Leiter von Gemeinden und christlichen Werken bedeutet das, ihre tief verwurzelten Gepflogenheiten und Überzeugungen zu überdenken. Könnte es sein, dass Gott uns dahin führt, uns mit neueren, flexibleren („fluideren“) Ausdrucksformen von Gemeinde zu beschäftigen und sie umzusetzen? In unterschiedlichem Maße können wir inzwischen beobachten, wie christliche Gemeinschaften sich stärker als Bewegungen verstehen und so handeln, z. B. indem sie mehr auf die Bedürfnisse der Gesellschaft reagieren und sich weniger auf Kirchengebäude konzentrieren. Pastoren leisten in vielen Fällen viel mehr als vor der Pandemie.

Vielleicht ist es selbstverständlich, aber dieser Wandel vollzieht sich aufgrund der Krisen und nicht als Ergebnis einer erneuerten Theologie! (Bedenken wir an dieser Stelle, dass ein Großteil des Neuen Testaments ebenfalls in einem Umfeld ständiger Krisen verfasst wurde!) Darüber hinaus hat Gott in den letzten 25 Jahren im Verborgenen ca. 1 % der Weltbevölkerung durch Gemeindegründungsbewegungen in sein Reich geführt, hauptsächlich unter Hindus und Muslimen.¹ Wir können viel von diesen bemerkenswerten Bewegungen und deren Gemeinden lernen.

Die traditionelle und die bewegungsorientierte Gemeinde

Wenn wir uns die gegenwärtigen Krisen vor Augen halten und die vielen Jüngerschaftsbewegungen ansehen, von denen wir heute lernen können, ist es vielleicht an der Zeit, unser biblisch-theologisches Verständnis von Gemeinde oder Kirche zu überdenken. Zu diesem Zweck schlagen wir eine Übung vor, in der wir über eine alternative Form von Gemeinde nachdenken – einer Form, die nach unserer Überzeugung auch eher der biblischen Sicht entspricht. Dieser Kontrast zwischen „traditioneller Gemeindesicht“ und „bewegungsorientierter Gemeindesicht“ (siehe Tabelle „Ein Paradigmenwechsel in der Sicht von Gemeinde“) sollte jedoch eher im Sinne von Kontinuität und nicht als Gegensatz verstanden werden. Hybride Übergangsformen sind möglich und beide Sichten können auf kreative Weise nebeneinander existieren – ähnlich wie zwei Züge, die in denselben Bahnhof ein- und ausfahren. Aber manchmal ist es auch sehr hilfreich, sich die wesentlichen Unterschiede genau anzusehen und daraus Schlüsse zu ziehen.

Ein Paradigmenwechsel in der Sicht von Gemeinde

Traditionelle Gemeinde Bewegungsorientierte Gemeinde
Ein Erbe des traditionellen Christentums Entwickelt sich aus der Christologie / einer neuen Sicht auf Jesus und seinen Dienst
Leitung durch einen Pastor bzw. eine Autorität von oben nach unten (Top down) Gabenorientierte Leitung nach Eph 4,11 (Zurüstung durch Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten, Lehrer – „APEHL“)
Geistlicher Dienst durch Profis (Theologen, Ordinierte) Jeder ist im geistlichen Dienst aktiv, entsprechend seiner Gaben, Funktion und Verantwortung
Lehre von der Kanzel Partizipatives Lernen in der Gruppe
Programme und Veranstaltungen bilden den Rahmen Ausrichtung auf Beziehungen und Jüngerschaft
Kirchengebäude bzw. Gemeinderäume stehen im Zentrum Im Zentrum steht ein Oikos-Netzwerk
Die Struktur ist statisch und hierarchisch organisiert Die Struktur ist organisch mit flachen Hierarchien
Reproduktion ist aufwändig und langsam Jeder Teil kann das Ganze reproduzieren
Macht, Einfluss und Anziehungskraft Verletzlichkeit und Bereitschaft zu dienen
Vergrößerung und Expansion (Megachurch-Modell) Multiplikation (Gründung neuer Gemeinden)

Die traditionelle Ekklesiologie (Lehre von der Gemeinde) ist in vieler Hinsicht ein Erbe der Kirchengeschichte, das kaum hinterfragt wird. Kirchliche Strukturen und Gemeindeleben folgen unseren Traditionen so, wie wir annehmen, dass es schon immer gemacht wurde. Im Gegensatz dazu entwickelt sich eine bewegungsorientierte Gemeindesicht aus unserem Verständnis von Jesus, der in die Welt gesandt wurde (Joh. 20,21). Christus ist das Haupt der Gemeinde (Kol 1,18). Sein Leben mit einer Mission, die Grenzen überwindet, dient uns als Quelle und Vorbild. Diese Rückbesinnung auf einen „wilden Messias“ (angelehnt an den Buchtitel von Alan Hirsch) um der anderen willen ist nicht nur ein erster Schritt, sondern vielmehr eine radikale Neuorientierung, die unser gesamtes Denken, Fühlen und Handeln durchdringt.

Protestantische (Frei-) Kirchen zeichnen sich durch eine Gemeindesicht aus, bei der praktisch alles an einem (vollzeitlichen) Pastor bzw. Pfarrer hängt – in der Regel mit einer Autoritätsstruktur von oben nach unten. Anders eine bewegungsorientierte Sicht von Gemeinde: Bewegungen von Jesusnachfolgern, die andere zu Jüngern machen, werden von Aposteln, Propheten und Evangelisten gestartet und dann von Hirten und Lehrern weitergeführt (Eph. 4,11). Man sollte dabei nicht davon ausgehen, dass diese Aufgaben nur von angestellten Vollzeitlern wahrgenommen werden. Vielmehr spielt jeder Gläubige, der für den Dienst in der Gemeinde und den Auftrag in der Welt ausgerüstet wird, dabei eine Rolle.

Belehrung von der Kanzel gegenüber dem Lernen aus der Bibel

In evangelikalen Gemeinden auf der ganzen Welt ist in der Regel das Gemeindeleben auf die „Kanzel“ ausgerichtet. Da sich ein Großteil des Sonntagsgottesdienstes um einen Monolog dreht, ist es der Prediger bzw. Lehrer, der dabei selbst am meisten lernt! Im Gegensatz dazu gibt eine bewegungsorientierte Sicht dem Lernen aus der Bibel den Vorrang vor dem Lehren der Bibel. Die Unterscheidung ist zwar subtil, aber tiefgreifend. Biblisches Lernen äußert sich in einem vielgestaltigen, partizipativen Prozess, an dem viele beteiligt sind. Menschen lesen miteinander die Bibel, diskutieren darüber und machen Erfahrungen damit, das Gelernte auszuleben und zu befolgen, was Gott sagt – und dies alles sowohl innerhalb der christlichen Gemeinschaft als auch mit Menschen, die noch nicht dazugehören.

Heutige Gemeinden sind meist rund um Veranstaltungen und Programme strukturiert – darin spiegelt sich oftmals moderne Organisationstheorie wider. Sonntagsschule, Jugendgruppe, Gemeindeprojekte usw. – all das kann sehr gut und segensreich sein. In einer bewegungsorientierten Sicht von Gemeinde geht man jedoch nicht automatisch davon aus, dass bei diesen Veranstaltungen und Programmen Menschen zu Jüngern werden. Eine bewusste Ausrichtung darauf, Menschen zu Jüngern von Jesus zu machen, die wiederum andere zu Jüngern machen, bildet die Grundlage für alles, was die Gemeinde tut und hält Kriterien dafür fest.

Manchmal ist es nötig, mit alten Traditionen zu brechen

Wo gehen Sie „in die Kirche“ oder „zur Gemeinde“? Haben Sie jemals über diese Floskel nachgedacht und was sie eigentlich besagt? Es bedeutet, dass sich Kirche oder Gemeinde um ein Gebäude oder einen Ort für das Heilige dreht. In der Tat sehnen sich die Menschen im allgemeinen nach Schönheit und fühlen sich zu einem sakralen Ort hingezogen. Und doch wohnt Gott nicht an besonderen Orten, sondern unter seinem Volk des Neuen Bundes (2. Korinther 6,16). Kirche oder Gemeinde kann als ein Netzwerk von Hausgemeinschaften (griechisch: oikos = Haus) verstanden werden. Dabei ist es bemerkenswert, dass diese Art von Kirche in den ersten drei Jahrhunderten in einer feindlichen, nichtchristlichen Kultur entstanden ist und sich darin nicht nur vervielfältigt, sondern auch die Gesellschaft verwandelt hat – Multiplikation und Transformation.

Traditionelle (Frei-)Kirchen neigen dazu, sich Veränderungen zu widersetzen (und sie ändern sich nur, wenn die Umstände es erfordern). Natürlich ist es wichtig, dass es unseren Glauben zu bewahren und unverfälscht weiterzugeben gilt (2. Tim. 2,2). Aber manchmal ist es auch notwendig, mit der institutionalisierten Tradition zu brechen, um die Vision des Reiches Gottes zu verwirklichen. In diesem Sinne geschieht Leitung von Gemeinden in Bewegungen von der Mitte aus, nicht von oben nach unten. Diese organische und flache Struktur befähigt ganz normale Jesusnachfolger, je nach den jeweiligen Bedürfnissen und Möglichkeiten Neuerungen einzuführen. Wenn man zum Beispiel den Kopf einer Spinne abschneidet, stirbt das Tier. Schneidet man jedoch ein Stück eines Seesterns ab, entsteht daraus aufgrund seiner „dezentralen“ Natur ein ganz neuer Seestern (siehe das neue Buch von Alan Hirsch: The Starfish and the Spirit).

Ein Netzwerk von Minikirchen

Weiterhin stehen Fragen nach Finanzen und Budgets oftmals unbewusst einer Multiplikation entgegen. Das verbreitete Modell großer Gemeinden mit einem gut bezahlten Pastor und vollen Kirchenbänken findet sich vor allem in wohlhabenden Gesellschaftsschichten. So wird jedoch ein teurer Standard etabliert, der meist unmöglich zu reproduzieren ist. Darüber hinaus geraten Gemeinden in weniger privilegierten Milieus, die versuchen, dieses attraktionale Gemeindemodell (das einen hohen finanziellen Aufwand erfordert) zu imitieren, in der Regel in eine ungesunde Abhängigkeit von externen finanziellen Ressourcen, um zu überleben.

Gemeinden in einer Bewegung haben möglicherweise ähnliche Schwachstellen, aber aus ganz anderen Gründen. Das Potenzial für die Multiplikation von Gemeinden erhöht sich massiv, wenn jeder Gläubige die Vision einer Jüngerschaftsbewegung verinnerlicht hat und sich voller Hingabe in einem Netzwerk von „Mini-Gemeinden“ (engl. Microchurches) oder Hausgemeinschaften einsetzt.

Es ist in der Regel recht aufschlussreich, einmal über folgende Frage nachzudenken: Wie würde es aussehen, Jünger zu machen, wenn man weder ein Budget noch ein eigenes Gebäude bzw. Gemeinderäume zur Verfügung hätte? Die Ironie dieser Frage besteht darin, dass dies die Situation der Kirche im ersten Jahrhundert war und nicht nur etwas, das viele Gemeinden heute aufgrund der Pandemie erleben. Vielleicht beginnt das Reich Gottes klein und scheinbar unbedeutend – wie Sauerteig. Das verborgene Potenzial steht uns zur Verfügung. Wir können uns auf schwierige Umstände einlassen und darin gedeihen – „wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch…“.

„Wie würde es aussehen, Jünger zu machen, wenn man weder ein Budget noch ein eigenes Gebäude bzw. Gemeinderäume zur Verfügung hätte?“

In diesem Beitrag haben wir viele Themen angesprochen und noch vieles andere bleibt ungesagt. Wir wollen Ihre apostolische Vorstellungskraft anregen! Es geht uns um Wege, die Kirche wieder neu auf unseren Herrn und Gründer auszurichten – auf sein Wesen und sein Vorbild. Lassen Sie uns umkehren und uns neu orientieren. Lassen wir uns neu ausrichten und erneuern. Mit einem Wort, lassen wir uns uns selbst und unser Denken von Jesus verändern (engl. ReJesus) hin zu seiner Kirche als einer Bewegung!

Die Welt verändert sich rasend schnell und wir werden wohl nie wieder zu einer „Normalität“ zurückkehren. Aber wollen wir das überhaupt? Wir wurden für diese Art von Herausforderungen erlöst und geschaffen. Die Welt braucht dringend die Heilung, die Christus bringt. Schließen wir uns also Jesus und seiner Bewegung an!

Arbeiten wir weiter daran, die Kirche für die nächste Etappe in die Zukunft neu auszurichten.

Foto: Sandro Gonzalez

Wolfgang Klöckner

…lebt und arbeitet seit vielen Jahren mit seiner Frau Ute im Allgäu, wo sie die Gründung und den Aufbau einiger Gemeinden gestartet und unterstützt haben. Sie begleiten und fördern verschiedene missionarische Projekte in der Region. Wolfgang engagiert sich darüber hinaus im Vorstand der Deutschen Inlandmission (DIM).

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